Mittwoch, 14.10.2020
+ Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas 11, 42-46
In jener Zeit sprach Jesus: Weh euch Pharisäern! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Gewürzkraut und allem Gemüse, die Gerechtigkeit aber und die Liebe zu Gott vergesst ihr. Man muss das eine tun, ohne das andere zu unterlassen.
Weh euch Pharisäern! Ihr wollt in den Synagogen den vordersten Sitz haben und auf den Straßen und Plätzen von allen gegrüßt werden.
Weh euch: Ihr seid wie Gräber, die man nicht mehr sieht; die Leute gehen darüber, ohne es zu merken.
Darauf erwiderte ihm ein Gesetzeslehrer: Meister, damit beleidigst du auch uns.
Er antwortete: Weh auch euch Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür.
Kommentar · Meinrad Winge
Die Pharisäer kann man sich als Laienbewegung vorstellen, die sich um religiöse Erneuerung bemühte: Im babylonischen Exil, einer schwierigen Zeit für die Juden als religiöser Minderheit, hatten all die Vorschriften und Reinheitsgebote große Bedeutung für den Erhalt jüdischer Identität. In der nachexilischen Zeit allerdings wurden viele Menschen lau und nachlässig, das religiöse Leben verflachte. Die Pharisäer wollten nun strenge Gesetzestreue im Alltag wiederherstellen. Die Befolgung der Vorschriften hatte für sie auch Vorrang gegenüber dem Tempeldienst. Damit gewann diese Strömung im Judentum nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (70 nach Christus) – zur Entstehungszeit des Lukasevangeliums (zwischen 70 und 90 nach Christus) gerade äußerst präsent – die Oberhand.
Bald geriet die Bewegung allerdings in eine fanatische, eifernde Haltung: Wer da nicht mitkonnte oder wollte, etwa ungebildete Bauern oder Handwerker, die für die Beachtung der unzähligen Regeln weder Zeit noch Interesse hatten, wurde verachtet und boykottiert.
Viele der Gesetzeslehrer, also die meisten Rabbiner, gehörten dieser Bewegung an. Jesu Bild von den „übertünchten Gräbern“ macht seine Kritik drastisch deutlich: Bloße Gesetzestreue ist leblos, modrig, tot – und verliert für die Menschen jede Relevanz.
Relevant sind Gerechtigkeit und Liebe – die nicht im Widerspruch zum Gesetz stehen: Man muss das eine tun, ohne das andere zu unterlassen.