Pfarrer Karl Engelmann
Das Christentum reicht weit über den Humanismus hinaus. Denn neben der Nächsten- und Selbstliebe ist in ihm auch die Gottesliebe inbegriffen. Gott als ganzer Mensch zu lieben, ist unsere Aufgabe und unser Auftrag. Wer sich Gott zuwendet, wer ihn sucht, den wirklichen, lebendigen Gott, der hat ihn schon gefunden. Und er kann ihn nicht für sich behalten, er trägt ihn zu den Menschen; er ist fähig geworden, jeden Menschen zu lieben, weil er selbst geliebt wird. Entscheidend ist, diese Liebe wirklich anzunehmen. Das bedeutet, sich lieben zu lassen. Die Christen der frühen Zeit waren arm, aber ihr Glaube hatte werbende Kraft, weil er als Liebe sichtbar wurde. Man zeigte auf die Christen und sagte: „Seht wie sie einander lieben!“
In der ersten Lesung, der Sinai-Erzählung, sind zahlreiche Vorschriften und Rechtsbestimmungen enthalten. Sie haben ihre Wurzel im Bundesverhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel. Das Volk Gottes kann nur bestehen, wenn es sich an diese Grundregeln hält. Die Vorschriften in der heutigen Lesung gelten dem Schutz der Armen und Schwachen. Sie setzen einfache, eher ländliche als städtische Verhältnisse voraus, haben jedoch bis heute nichts an Wirklichkeitsnähe verloren. Diese Lesung ist quasi ein Sozialprogramm, das auch für uns Christen bestimmt ist. An dieser Lesung kann auch eine Regierung, egal welchen Staates, gemessen werden.
Die jüdischen Schriftgelehrten zählten in der Bibel 248 Gebote und 365 Verbote. Gelten sie alle gleich? Oder gibt es eines, das von allen das wichtigste ist, gleichsam das Fundament aller anderen? Die Antwort ist, nachdem Jesus sie ausgesprochen hat, völlig klar und für alle Zeiten ins Bewusstsein gehoben: Ohne die Liebe wird keines von allen Geboten wirklich erfüllt; sie bleiben leer. Erst die Liebe erfüllt sie mit Leben. Jesus hat das Gebot der Gottesliebe und das der Nächstenliebe zur Einheit zusammengefügt. Und er hat ihre Einheit sichtbar gemacht durch sein Wort und seine Tat.
Das große Gebot ist auch für uns die „Prüfungsfrage“. Wenn wir Christus nicht im Nächsten begegnen, wie sollen wir ihm im Sakrament begegnen? ‒ Hat Gott nicht die Armen in der Welt auserwählt, um sie durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen, das er denen verheißen hat, die ihn lieben (Jak 2,5)? Wir können uns heute auch die Frage stellen: Wie gehe ich mit mir um, wie gehe ich mit meinem Nächsten um ‒ oder rede ich immer vom Übernächsten? Und wie gehe ich mit Gott um? Wir müssen uns aber auch fragen: Lasse ich mich wirklich lieben, sowohl von Gott als auch von den Menschen, die mit mir unterwegs sind?
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