Betrachtung über die Sonntagslesungen vom 2. Sonntag im Jahreskreis

Kaplan Boris Borsch

Das erste, was mir in der Zusammenschau der Sonntagslesungen auffällt, ist, dass hier Menschen unterschiedlicher Epochen und ganz unterschiedlicher Herkunft dargestellt sind, die in ihrer eigenen Weise einem Aufruf Gottes folgen. Sie versuchten alle, dem Willen Gottes für ihr Leben Raum zu geben, seinem Anruf zu folgen.

In der ersten Lesung wird der junge Samuel gerufen, der anscheinend noch etwas Übung brauchte, um die Anrufe Gottes zu unterscheiden. Er war noch jung und verwechselte die Stimme Gottes anscheinend mit der Stimme seines leiblichen Vaters Eli.

Auch der Psalmist ruft aus: „Mein Gott, ich komme, deinen Willen zu tun ist mein Gefallen!“

Die paulinische Lesung offenbart uns, dass die Hingabe an Gott uns eines Geistes mit ihm macht. Paulus machte ja auch eine tiefschürfende Erfahrung, die seinem Leben eine neue Richtung gab. Auch er versuchte fortan, dem Willen Gottes (Nach)Folge zu leisten.

Auch das Evangelium konfrontiert uns mit dem Thema Nachfolge. Es begegnen uns  Gefolgsleute von Johannes, die Jesus nachgehen. Es erfordert schon einigen Mut, einfach jemandem aus Neugier nachzugehen. Interessant finde ich, dass sie auf Jesu Frage „Was wollt ihr?“ lediglich antworten, dass sie gerne wissen würden, wo dieser wohnt. Es bringt mich zum Schmunzeln, wenn man sich das ganze noch einmal durchdenkt: Da werden 2 junge Männer, die auf den Messias warten, die also einen gewissen religiösen Antrieb haben, darauf aufmerksam gemacht, dass gerade der ersehnte Messias vorbeigeht. Dieser spricht sie sogar an und fragt „Was sucht ihr?“ und alles, was die zwei Männer herausbringen, ist eine Gegenfrage nach seinem Wohnort.

Aber Jesus reagiert mit einer Aufforderung, die seine Frage und gleichzeitig die Frage der jungen Männer beantworten wird:

„Kommt und seht“  – und sie gingen mit ihm und riefen dann noch andere hinzu, weil sie wirklich zur Überzeugung gelangt waren, dass er wirklich der Messias sei.

Bei der Betrachtung dieser Schriftstellen kommen mir einige Fragen in den Sinn, die mein christliches Leben betreffen.

  • Kümmern mich eigentlich die Anrufe Gottes? Ruft er mich? Lasse ich in meinem Leben genügend Raum für Gott und seinen An-Spruch an mein Leben?
  • Lebe ich hellhörig auf seine oft sehr diskreten Anrufe?
  • Habe ich eigentlich den Mut, den die Jünger aus dem Evangelium hatten? Mich zu trauen, dem „Unbekannten“ zu folgen, mich an den Herrn zu binden wie Paulus? Nachzufolgen, auch, wenn mich die Nachfolge vielleicht auch aus meiner Komfortzone führt? Wenn ich dafür Gewohntes aufgeben soll, um mich mit Ungewohntem zu konfrontieren?

Die Frage der Nachfolge schließt immer auch das Hören auf seinen Anruf und die Bereitschaft, sich seinem Willen hinzugeben, mit ein. So kann auch die paulinische Lesung dieses Sonntags verstanden werden. Wer sich an den Herrn bindet, spich: wer ihm nachfolgt, „ist ein Geist mit ihm“. Diese Hingabe zieht auch Joseph Ratzinger als das grundlegende Kriterium der Geschwisterlichkeit heran. „Ein Geist mit Gott zu sein“, wie Paulus es ausdrückt, kann man ja schließlich auch als das ambitionierte Ziel und die fundamentale Hoffnung aller Religiosität betrachten.

In einem Vortrag über den christlichen Bruderbegriff hält Ratzinger unter anderem fest, dass Jesus den Bruderbegriff in einer bestimmten Textgruppe verwendet, in der er den Begriff „Bruder“ auf eine theologische Ebene hebt, die unsere bisherigen Betrachtungen vielleicht berühren:

In Mk 3,31-35 verweist Jesus auf die Frage, wer seine Mutter und Brüder seien, auf diejenigen, die um ihn versammelt sind, indem er sagt: „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Geschwister sind für Jesus jene, die in der gemeinsamen Annahme des Willens Gottes in einer Geistesverwandtschaft stehen. „Die gemeinsame Willensunterstellung unter Gott schafft also diese innerste Verwandtschaft, um die es hier geht.“[1] Es geht nicht um eine traditionell, nationalistisch, ideologisch oder naturalistisch verstandene Gemeinschaft von Gleichgesinnten, sondern das Verbindende der neuen Bruderschaft ist das freiwillige, personale Ja des Einzelnen zum Willen Gottes, das Ratzinger in Mk 10,29f angesprochen sieht. Demjenigen, der um seinetwillen zur Verkündigung der frohen Botschaft Brüder, Schwestern, Vater und Mutter verlässt, wird eine hundertfache Rückgabe der Verlassenen verheißen, und zwar, so Ratzinger, in den Glaubensbrüdern, die sich ebenso dem Willen Gottes übergeben haben.

Die sich durch die eigene Hingabe ergebende Gotteskindschaft ist also keine privatistisch-abgeschottete Beziehung zwischen Gott und einem einzelnen Menschen oder einer bestimmten Gruppe, sondern steht immer im Kontext des gemeinsamen Rufens zu einem gemeinsamen Vater unter Brüdern und Schwestern (deshalb beten wir ja auch das Vater Unser).

Den gemeinschaftlichen Anspruch der christlichen Brüderlichkeit sieht Ratzinger auch darin gegeben, dass die Gemeinschaft mit Gott immer auch durch die Kirche vermittelte Gemeinschaft ist[2], denn sie ist die Gesamtheit der in Christus einverleibten Menschen – der Leib Christi. So gesehen bedeutet ein ernst gemeintes Ja zu Gott auch notwendigerweise ein Ja zu den Brüdern, die ebenso in Christus einverleibt sind.[3]

Diesen Gedankengang führt Ratzinger weiter und kommt zu dem Schluss, dass durch die erwähnte „Einverleibung in Christus“ immer neu die Forderung erwächst, „die trennende Besonderheit des vereinzelnden Ich, die Selbstbehauptung des naturhaften Egoismus hineinzerbrechen zu lassen in die Gemeinsamkeit des neuen Menschen Jesus Christus“.[4]

Allzu oft gerät im Alltag dieser wichtige Aspekt auch auf der sytemisch-kirchenpolitischen Ebene aus dem Blickfeld. Die einzelnen Pfarren, Gemeinschaften und sonstigen Verbindungen christlicher Brüderlichkeit stellen für Ratzinger keine abgegrenzten Einheiten dar! Nur in ihrer Gesamtheit bildet die Kirche Christus in der Welt ab und daher ist die Offenheit für die Brüder anderer Gemeinschaften oder kirchlicher Lebensformen von fundamentaler Bedeutung für deren Selbstverständnis: „Und daher ist das grundlegende Kriterium dafür, ob eine Gemeinde in „seinem“ Namen versammelt und mithin Kirche ist, ihr Stehen im Ganzen. Ihr grundlegendes Kriterium ist ihre Unabgeschlossenheit, ihre Nichtautonomie, ihre Offenheit ins Ganze der Kirche hinein. Ihr Kriterium ist, dass sie nicht etwas Besonderes sein will, sondern an diesem Ort die eine Kirche verkörpert, die überall dieselbe und nur so sie selber ist.“[5]

Ratzinger sieht im Glauben an Jesus Christus ist keine privatistische Nachfolge einer Gemeinschaft oder (Heils)Karriere einer Einzelperson, die sich vielleicht unbestritten an einem hohen ethischen Vorbild orientiert, sondern ein existentielles sich Hingeben und Empfangen in der realen Einheit mit Christus in der Eucharistie.

Christus-Ethik ist für Ratzinger deshalb wesentlich Leib-Christi-Ethik. Sie bedeutet notwendig Entwerdung gegenüber dem Ich, brüderliche Einswerdung mit allen, die in Christus sind. Weil sie ihren Grund in der Pro-Existenz Jesu hat, sieht sie nicht auf das eigene, sondern schließt als Ethik der Einheit die Brüderlichkeit aller Christen notwendig mit ein. So gesehen ist christliche Brüderlichkeit kein Akt der Höflichkeit, den man dem anderen Bruder innerhalb der Gemeinschaft aus Gründen einer willkürlich definierten Loyalität schuldet, sondern Annahme des anderen Bruders in seinem So-sein durch die Aufgabe der Absolutsetzung des eigenen Ich und seiner Vorstellungen (über sich selbst, über die eigene Gemeinschaft oder Pfarre – letztlich über die Kirche) im proexistenten Handeln für den anderen.[6]

Eine große Aufgabe, deren Meisterung der Same für eine fruchtbare Entwicklung der kirchlichen Strukturen in eine neue Zeit hinein sein kann, weil darin die Offenheit für den An-Spruch Gottes gewahrt bleibt, der an jeden von uns ergehen kann.


[1] Ratzinger, Joseph: Die christliche Brüderlichkeit; Kösel-Verlag, München 2006 (1. Ausg. 1960), S. 51

[2] Ratzinger, Joseph: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche; Diss. Univ. München 1951, S. 216-218, 293-295, 296-309

[3] Vgl. Ratzinger, Joseph: Die christliche Brüderlichkeit; Kösel-Verlag, München 2006

(1. Ausg. 1960), S. 89ff

[4] Ebd. S. 96

[5] Ratzinger, Joseph; Dogma und Verkündigung; Erich Wewel Verlag München 1973, S. 244;

[6] Vgl. Ratzinger, Joseph: Die christliche Brüderlichkeit; Kösel-Verlag, München 2006, S. 97

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