Letzte Ruhe

Gepflegte Gräber sind Zeichen einer lebendigen Gesellschaft.

In meinem knapp 30-jährigen priesterlichen Dienst habe ich viele Friedhöfe kennengelernt: große und kleine, alte und neue, städtische und ländliche. In Wien fällt mir seit Jahren ins Auge, wie unsere Friedhöfe immer mehr verwaisen. Gewiss, die Friedhofsverwaltung kümmert sich um die Pflege der allgemeinen Teile, die Zahl der Gräber jedoch, die augenscheinlich von niemandem mehr betreut werden, nimmt ständig zu. Wo früher Blumen blühten, verrankt heute Efeu sich neigende Grabsteine. Das betrifft längst nicht mehr einzelne Gräber, sondern bereits ganze Reihen, wie sich z. B. im südöstlichen Teil des Zentralfriedhofs, in den Gruppen jenseits der 100er-Zahl, feststellen lässt.

Die Hauptursachen für zunehmend verfallende Grabanlagen sind die Abkehr von der Erd- hin zur Feuerbestattung sowie kleinere Familien, deren Mitglieder verstreut leben und in denen keiner mehr die Gräber von Angehörigen pflegen kann bzw. bereit ist, Friedhofsgebühren und Pflegeentgelte zu bezahlen. Weitere Gründe für die sich wandelnde Friedhofskultur sind die steigende Nachfrage nach pflegefreien Grabstellen sowie nach neuen, nichtkirchlichen Varianten der Bestattung, die den Lebensstil oder die Weltanschauung des Verstorbenen widerspiegeln, wie z. B. die Bestattung in einem Friedwald. Ich frage mich: Wenn diese Entwicklung so weitergeht, wie werden unsere Friedhöfe in zwanzig Jahren aussehen?

Nun, was bedeutet uns ein Friedhof, die letzte Ruhestätte von Menschen, die uns im Leben wichtig waren?

Ein Friedhof erfüllt wichtige individuelle und gesellschaftliche Funktionen. Vor allem ist er dazu bestimmt, den Angehörigen Verstorbener ein ungestörtes Totengedenken in einem Raum zu ermöglichen, der von dem der Lebenden abgetrennt ist. Als letzte Ruhestätte der Verstorbenen ist er eine Stätte des Gedenkens, der Einkehr, der Trauer, aber auch der Hoffnung. Er spielt also auch eine wichtige Rolle in der religiösen Praxis.

Für uns Christen sind Friedhöfe Zeichen der Vergänglichkeit und der Auferstehung. Ein Friedhof verweist uns darauf, dass auch wir einmal das irdische Kleid verlassen müssen und dass einmal zur Ruhe gebettet wird, was dieser Welt zugehört. Er gibt uns aber auch einen Wink:
Der Tod hat in unserem Leben nicht das letzte Wort, sondern Gott wird das letzte Wort sprechen, ein Wort des Lebens und der Zukunft.

Zur Kultur des Lebens gehören auch die Kultur des Sterbens und die Kultur des Todes. Für eine lebendige Gesellschaft ist es unaufgebbar wichtig, Friedhöfe und Gräber zu pflegen und damit das Andenken derer zu bewahren, die für uns das Fundament des Lebens gelegt haben, auf dem wir weiterbauen konnten. Ein gehegter Friedhof, eine umsorgte Grabstätte, drücken Dankbarkeit gegenüber jenen Menschen aus, die uns geliebt haben.

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