Journalist: Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim sagt: „Impfen ist keine persönliche Entscheidung, sondern eine gesellschaftliche Entscheidung.“ Denn es gebe Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können. Sie seien darauf angewiesen, dass alle anderen es tun. Brauchen wir also eine Impfpflicht?
Antonio Auterio: Ich möchte hierbei zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Rein rechtlich halte ich eine Impfpflicht für unvorstellbar. Es ist sehr wichtig, sich und die Gesellschaft gegen eine solche Verpflichtung zu schützen. Das wäre ja wie in einer Diktatur. Auf moralischer Ebene sehe ich aber eine Pflicht im Sinne einer Verantwortung für das Gemeinwohl, weil das Virus alle betrifft. Papst Franziskus hat kürzlich daran erinnert, der Ausweg aus dieser schwierigen Zeit gehe nicht mit dem Ich, sondern mit dem Wir. Manche verweigern eine Impfung mit dem Argument, selbst über den eigenen Körper entscheiden zu wollen. Einen solchen Gedanken finde ich grundfalsch. Ich bin ja nicht ich für mich allein. Unser Leben geschieht in Gemeinschaft mit anderen, wir sind miteinander verbunden. Wer allein über sich selbst entscheiden will, ohne seine Umwelt einzubeziehen, muss sich konsequenterweise vollkommen zurückziehen, sich in die Isolation begeben. Theologisch ausgedrückt: Gott ist der Retter der ganzen Welt, nicht einzelner Menschen. Entweder wir stehen eine globale Pandemie gemeinsam durch oder gar nicht.
ANTONIO AUTIERO (* 1948) war von 1991 bis 2013 Professor für Moralthelogie in Münster (Quelle: „Christi in in der Gegenwart“ , 3/21)